Alois Reinhardt

2020

Laudatio

Bonn

Elisabeth Einecke-Klövekorn

Bonner Theaterpreis

Die Freunde des Schauspiels Bonn e.V, verleihen den jährlichen Bonner Theaterpreis für herausragende künstlerische Leistungen am Schauspiel Bonn.

König Lear, von den Freunden des Schauspiels Bonn als bemerkenswerteste Inszenierung der Spielzeit 2019/20 ausgezeichnet, fiel kurz nach der Premiere der Corona-Pandemie zum Opfer. Und damit auch Gloucesters rechtschaffener Sohn Edgar. Der muss vor den Intrigen seines Halbbruders fliehen, geistert als wahnsinniger Bettler Tom durch die verrückte Welt und gehört schließlich zu den wenigen Überlebenden der Tragödie. Alois Reinhardt verkörperte diese vielschichtige Figur, die mit gespieltem Irrsinn durch den wirklichen Irrsinn tänzelt und dabei die üble Maskerade entlarvt. Das konnten bisher leider nur wenige Zuschauer erleben.

Es war ein anderes Shakespeare-Stück, das das Publikum so zahlreich für den diesjährigen Thespis-Preisträger stimmen ließ: Ein Sommernachtstraum, inszeniert als Familienstück, das aus der vorhergehenden Saison wiederaufgenommen wurde. Als ungemein agiler Puck begeisterte Alois Reinhardt Kinder wie Erwachsene. Wobei Letztere es kaum fassen konnten, wie gebannt das junge Publikum das verrückte Verwirrspiel verfolgte und sich dabei von dem gewitzten Kobold Puck leiten ließ.

Noch eine weitere große Rolle weckte bei der Wiederaufnahme erneut die Begeisterung des Publikums: Der animalische Sklave Lucky in Becketts Warten auf Godot in der Werkstatt, inszeniert von Luise Voigt wie später auch der König Lear im großen Schauspielhaus. Zu einem atemberaubenden Kunststück geriet Luckys ‚lautes Denken‘ bei seiner aufrecht zelebrierten Rede, die höchst eloquent jeden Sinn verweigert. Im Schauspielhaus war er in der Saison 2019/20 außerdem zu erleben in den Neuproduktionen von zwei deutschen Klassikern: als geradezu kindisch auf seiner Ehre bestehender Major von Tellheim in Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm und als brüderlich ungerührter Forstmeister in der eigenwilligen Inszenierung von Kleists Erzählung Die Marquise von O.

Alois Reinhardt verleiht all seinen Bühnenfiguren eine markante Körperlichkeit und eine ganz besondere Bewegungssprache. Das hat viel mit seinem Interesse am Tanz zu tun. Schon während seines Schauspielstudiums besuchte er diverse Tanzworkshops und arbeitete mit der amerikanischen Choreografin Meg Stuart zusammen. Tänzer wollte er allerdings bei aller Faszination für körperliche Ausdrucksformen nicht werden; die gestalterische Freiheit beim Schauspiel interessierte ihn stärker.

Geboren wurde Reinhardt 1981 in der Schweiz und wuchs mit fünf Geschwistern auf einem Bauernhof auf. Zum Theater kam er durch einen Freund der Familie, der in Zürich als Schauspieler tätig war. Als Jugendlicher stand Reinhardt in einigen professionellen Produktionen auf der Bühne, entschied sich nach der Schulzeit aber erst mal für eine Lehre als Theatermaler, die er am Theater St. Gallen abschloss. Sein Schauspielstudium absolvierte er dann an der Hochschule für Musik und Theater Bern. Beim Treffen deutschsprachiger Schauspielschulen 2006 in München erhielt eine Berner Produktion gleich mehrere Preise. Alois Reinhardt wirkte daraufhin bei einer Inszenierung an der Berliner Ernst-Busch Hochschule mit und traf dort den Schweizer Regisseur Mark Zurmühle, Intendant am Deutschen Theater Göttingen, der ihn 2007 in sein Ensemble holte. In der Regie von Zurmühle spielte Reinhardt die Titelrolle in Shakespeares Macbeth und wurde dafür 2009 mit dem Nachwuchsförderpreis ausgezeichnet. Zu seinen diversen großen Rollen gehörten 2010 der Raskolnikow in Thomas Bischoffs vierstündiger Inszenierung von Dostojewskis Verbrechen und Strafe und der Ferdinand in Alice Buddebergs Dekonstruktion von Kabale und Liebe.

Nach vier Jahren in der niedersächsischen Universitätsstadt war Reinhardt zwei Jahre lang als freier Schauspieler und Performer in Berlin tätig. Internationale Theaterprojekte führten ihn u.a. nach Palästina und Marokko. Die Bonner Schauspieldirektorin Nicola Bramkamp holte ihn dann in ihr neues Ensemble. 2013 stellte Reinhardt sich hier in dem damals noch Kammerspiele genannten Schauspielhaus dem Publikum vor in Buddebergs Inszenierung von Karl und Rosa nach dem Roman von Alfred Döblin. In der Rolle des toten Hannes bzw. des gespenstisch tänzelnden Satan überzeugte er sofort.

Seitdem hat er hier in vielen Rollen immer wieder seine spielerische Wandlungsfähigkeit und seine besondere Bühnenpräsenz bewiesen. Kinder und Familien schlossen 2016 seinen jungen Roboter Robbi mit dem roten Lego-FlieWaTüüt ins Herz. Tanzen durfte er wieder als Familien-Außenseiter Christian Buddenbrock in der als Gesellschaftstanz präsentierten großartigen Inszenierung von Thomas Manns Roman. 2017 faszinierte er als versklavter Inselbewohner Caliban in Shakespeares Sturm. Als sein „Herzstück“ bezeichnete er jedoch mal Herz der Finsternis nach Joseph Conrad, eine der letzten Aufführungen in der Halle Beuel. Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus habe ihn sehr beschäftigt. In der Werkstatt war es zuletzt der Recherchethriller Oh, wie schön ist (Panama) Malta, in dem Reinhardt verschiedene Figuren verkörperte und mit dem Team die Mechanismen von Kapital und Korruption untersuchte. Denn Alois Reinhardt ist ein politisch kritischer Kopf, der viel über das Weltgeschehen nachdenkt und das Theater dezidiert als Ort für komplexe gesellschaftliche Auseinandersetzungen begreift: „Das Theater ist einer der letzten Orte, wo man sich noch wirklich auf den Menschen konzentriert und – weitgehend frei von kommerziellem Druck – das erforscht, was uns antreibt. Sozusagen ein schützenswerter Schutzraum.“

Alois Reinhardt, der nun mit dem Thespis-Preis der Freunde des Schauspiels Bonn ausgezeichnet wird, ist ein nachdenklicher Schauspieler, der das Publikum immer wieder zu Gedanken-Experimenten verführt. Mit beständiger Neugier und großer sinnlicher Lust an Sprache, Bildern und Bewegung. Die Bühne versteht er als künstlerisches Labor zur gemeinsamen Menschenforschung. Wir freuen uns darauf, bald wieder mit ihm zwischen Fantasie und Wirklichkeit unterwegs zu sein.